29 december 2015, Midwinteravond

 


Korn von "brennenden Höfen"
Eine etwas andere Wirtschaftsgeschichte in fünf Flaschen

Woher stammt der Kornbrand? Ein deutscher Schlager hat einmal darauf geantwor-tet: „Der Teufel hat den Schnaps gemacht!“ – Udo Jürgens hat das gesungen, 1973. Und Willy Millowitsch hat bereits 1960 im Karnevalsschlager das Teuflische, das Zerstörerische des Hochprozentigen besungen, „Schnaps, das war sein letztes Wort, da zogen ihn die Englein fort…“
Die niederdeutschen Redensarten warnen weniger „lustig“ vor übermäßigem Konsum des Kornbrands: Inn’n Schnaps geiht mähr Lüe unner as in’t Water. Ein anderer Spruch weist indirekt, aber doch deutlich auf die (selbst-)zerstörerischen Folgen hin: Et geiht manks ’n Buernhoff düer ’n Hals.
Die Menschen auf dem Land hatten guten Grund zur Warnung. Aber sie haben dem Kornbrand auch eine Menge zu verdanken. Doch dazu später. Zunächst möchte ich die Frage stellen: Woher stammt der Kornbrand? Mit dieser Frage stelle ich die erste von fünf Flaschen auf den Tisch – fünf Flaschen, die aus der Geschichte des Kornbrands erzählen.

1. Flasche: Ein schlichter Tonkrug ohne Etikett
So oder ähnlich müssen wir uns die ältesten Tonflaschen vorstellen, in denen Kornbrand abgefüllt wurde, irgendwo in Kleinasien vor mehr als 1000 Jahren. Aus diesem geographischen Raum soll das Verfahren der Destillation stammen, also das Erhitzen von Flüssigkeiten und das Auffangen des abgekühlten alkoholischen Dampfes.
Auch unser Wort „Alkohol“ stammt aus dem Arabischen. Das Wort „al khol“ bedeutet so viel wie: „Etwas Reines, Glänzendes, besonders Feines.“
Das Wissen über die Destillation gelangte im Laufe des Mittelalters nach Europa und wurde von den Alchemisten erweitert. Im ausgehenden Mittelalter wurde flä-chendeckend in Europa destilliert. Es entstanden regionaltypische Getränke wie
–    der Armagnac, der 1411 in Südfrankreich erstmals gebrannt wurde – aus Weißwein,
–    der Cognac, der um 1500 erstmals gebrannt wurde, und schließlich
–    der Genever – mit Wacholder aromatisiert (flämisch: jenever, franzö-sisch: genièvre).

2. Flasche: „Bols-Genever“ aus Amsterdam
Lucas Bols stellte 1575 am Stadtrand von Amsterdam die erste Destillierblase der Niederlande auf, übrigens mit Torf beheizt. Damals, in der Nach-Reformationszeit, entstand eine unsichtbare Grenze quer durch Mitteleuropa:
–    Im Süden Deutschlands und im südlichen Europa brannte man Schnäpse aus Wein (also Weinbrand / Branntwein), aus den Rückständen der Weinherstellung (also Tresterbrand, Grappa) oder auch aus Früchten wie Äpfel, Birnen oder Pflaumen.
–    In der nördlichen Hälfte Deutschlands wie überhaupt im nördlichen Teil Europas brannte man aus Getreide(maische), also Kornbrand. Später nutzte man auch Rüben und Kartoffeln, als es sie hierzulande gab.

3. Flasche: „Schwarze-Korn“ aus Oelde
Branntwein wurde als Medizin eingesetzt und bis weit ins 18. Jahrhundert hinein als exquisites Genussmittel konsumiert. Das Schnapsbrennen war bis 1815 in Westfalen ein Privileg der Städte und auf dem Land verboten. Deshalb finden wir die ältesten Brennereien nicht auf dem Land, sondern in Städten. Drei Beispiele:
–    Die Kornbrennerei Sallandt in der Stadt Burgsteinfurt, 1739 gegründet: Die Vorfahren kamen aus Holland, die Familie stellte mehrere Ratsherren, Schöffen und Bürgermeister.
–    Die Kornbrennerei Berentzen in Haselünne wurde 1758 von einem Ratsherrn gegründet.
–    Die Brennerei Schwarze in Oelde im östlichen Münsterland wurde be-reits 1663 vom Kaufmann und Gastwirt Friedrich Schwarze gegründet.

4. Flasche: „Steinhäger“ aus Steinhagen
Die Ortschaft Steinhagen am Teutoburger Wald war nicht ganz Stadt, aber eben auch kein Dorf mehr, und dort durfte der spezielle Wacholderbrand hergestellt wer-den, der bereits im 17. Jahrhundert nach Münster und Berlin exportiert wurde und als Medizin verwandt wurde.
Als Westfalen 1815 preußisch wurde und die Gewerbefreiheit eingeführt wurde, da begannen viele Landwirte, Korn zu brennen. Schon um 1820 gab es in Westfalen rund 1600 Brennereien „auf dem platten Lande“ (und rund 1100 in den Städten).
Das Kornbrennen auf dem Land setzte den „Schlempekreislauf“ in Gang. Getrei-deschlempe, ein Rückstand beim Erzeugen von Kornbrand, lässt sich nur ans Vieh verfüttern. Die Tiere liefern dadurch mehr Mist, die Bauern haben mehr Dünger, und am Ende hilft das alles der Kultivierung der Böden: Es wächst mehr Getreide, man hat mehr zu essen und kann auch mehr Korn brennen. Der Schlempekreislauf war also ein Kreislauf nach oben. Kleinere Bauern schlossen sich zusammen, um daran mit eigenen genossenschaftlichen Brennereien teilzuhaben. In Westfalen existierten um 1900 über 100 solcher „Schnaps-Genossenschaften“.
Es gab um 1900 zwar weitaus mehr private Brennereien – insgesamt rund 350, aber: Fast jeder zweite Liter Schnaps, der um 1900 in Westfalen gebrannt wurde, stammte aus so einer Genossenschaftsbrennerei.
Das alles geschah im 19. Jahrhundert unter der zunehmend schärferen Kontrolle des Staates. Sie mündete 1918 im Gesetz zum Branntweinmonopol. Es war eines der letzten Gesetze, das Kaiser Wilhelm II. überhaupt unterzeichnet hat, bevor er ins Exil nach Holland ging.
Das Branntweinmonopol vom 26. Juli 1918 ist ein Kind des Ersten Weltkrieges. Es war Teil der staatlichen Kriegswirtschaft und schützte die ländlichen Kornbrennerei-en. Es hat Inflation und Weltwirtschaftskrise, den Zweiten Weltkrieg und die Wäh-rungsreform überstanden – aber nicht mehr die Gesetzgebung der EU: Staatliche Reglementierungen der Wirtschaft und Marktordnungen für landwirtschaftliche Er-zeugnisse sind grundsätzlich nicht mit EU-Recht vereinbar. Deshalb hob die EU auch das Branntweinmonopol auf. Die letzten Regelungen für Obstalkohol laufen am 31. Dezember 2017 aus. Die große Zeit der „brennenden Höfe“ ist dann endgültig vorbei und Geschichte.

5. Flasche: Sasse-Lagerkorn aus Schöppingen
Viele traditionsreiche ländliche Brennereien gaben zum Teil schon vor dem Ende des Branntweinmonopols auf – oder standen kurz vor dem Ruin. Manche aber erfinden sich neu, so wie die jahrhundertealte Brennerei Sasse in Schöppingen. Ihr Niedergang wurde in den 1990er Jahren mit einer geschickten Neuorientierung (Lagerkorn aus Eichenfässern) und einem ansprechenden Marketing aufgehalten.
Eine Reihe solcher Marken gibt es inzwischen oder sie entstehen gerade neu. Sie wollen keine Massenkultur sein und auch nicht zum besinnungslosen Besäufnis einladen, sondern verstehen sich als Bekenntnis zum Genuss und zur Region, dem Münsterland.

Schluss
Aber Vorsicht vor solchen neuen Dingen! – Oder wie sagte man im Münsterland: Vöör olle Wagenspöörs un nigge Weertshüser mott man sick wahren. (Vor alten Wa-genspuren und neuen Wirtshäusern muss man sich in acht nehmen!)
Gemeint ist: Auf alten, ausgefahrenen Wegen ist nicht gut fahren, der Pferdewagen kippt schneller um oder seine Räder zerbrechen. Man kann ordentlich versacken – wie in neuen Wirtshäusern auch.
Überhaupt mahnen die meisten plattdeutschen Sprichwörter rund um den Kornbrand zu Vorsicht und zu mäßigem Konsum. Aber einige der überlieferten Sprüche reden sich die Welt auch schön – und ermuntern zum zweiten Glas:
Wenn ik ’n Schnaps drinke, bin’ck jüst n annern Kiärl. Un warum sall de annere Kiärl nich ook ’n Schnaps drinken?
Beim dritten Korn heißt es: Bäter eenmal in’t Jaor ne Koo versoupen als jeden Dagg n Kalf.
Und beim vierten Korn: Ne halvwe Dönnte is wegsmiätten Geld.

Der Rest ist dann wohl nur noch Lallen. Aber damit will ich meinen Vortrag nicht schließen, sondern mit einem hintersinnigen Spruch meines Großvaters, den mein Onkel für die Familienchronik überliefert hat: Mein Großvater steht also in den 1930er Jahren auf einem Feld unseres Hofes im östlichen Münsterland, dicht an der Grenze nach Brockhagen und Steinhagen hin. Von ferne sind die Totenglocken von Steinhagen zu hören, es findet dort offenbar eine Beerdigung statt. Mein Großvater lehnt sich auf die Kartoffelforke und sagt mit tiefernster Stimme: Use Hiärgott heff wier ’n Steinhäger tau sick nuomen!

Gisbert Strotdrees, Münster
Vortrag (Kurzfassung) beim Midwinterabend 2015 auf Erve Kots / Lievelde


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